Winkler Rezension: Friedhof der bitteren Orangen Von Anfang an schwere Kost. Ich muss ich mich seitenweise durchbeißen und den ungewöhnlichen Zugang des Autors zu Tod und katholischen Riten ertragen. Irgendwann einmal, nachdem ich das Buch schon zigmal weggelegt habe, vorgeblättert habe, um zu sehen, ob eine geringe Chance auf eine zusammenhängende Geschichte jenseits der Erwähnung von Verwesung, Leichen, Papst und Tod besteht, werde ich dann doch von Winklers Schreib-Welt eingenommen. Ich muss mich nur von der gewohnten Erzählweise mit einer klaren Handlung verabschieden. Dann beginnt Winkler in einem Stil, der mich irgendwie an den Gedankenstrom von James Joyce erinnert, aber doch ganz eigenständig ist, detailliert, ja sogar peinlich genau, zu beschreiben, was an der Statione Termini in Rom tagtäglich passiert. Dabei nimmt er gerade das ins Visier, was die meisten anderen Passanten gerne übersehen, wo sie mit Sicherheit sogar absichtlich wegsehen. Und in dieser peniblen Beschreibung lässt sich der Autor zu Rückblenden in seine verhasste Kindheit im katholischen Kärntner Dorf Kamering inspirieren, wo er die schlechtesten Erfahrungen mit Schulfeinden, Verwandten, Nachbarn, Bauern und dem Pfarrer machen hat müssen. Viele im Ort nehmen es dem Autor übel, dass er schlecht über sie schreibt. Seine Todessehnsucht, sein krankhaft anmutendes Verhältnis zu Tod und Begräbnislassen eine unheimliche Unzufriedenheit mit sich selbst erkennen und einen Hass auf fast alles, was mit seiner Kindheit und seinem Heimatdorf zu tun hat. Winkler kann zweifellos genau beobachten und präzise schreiben. Aber das, was er da unbarmherzig mit einer ISBN Nummer versehen auf dem Buchmarktdeponiert hat, muss erst einmal unbeschadet verdaut werden. Das ist meiner Meinung nach nur möglich, wenn man einen guten Magen hat und nur ja nicht versucht, sich mit dem Erzähler in irgend einer Form zu identifizieren und seine Beweggründe zu verstehen. Dass das den Betroffenen in seinem Heimatort fast nicht gelingen kann, ist naheliegend. Bei jeder Seite denke ich mir unwillkürlich: „Ich bin froh, dass ich nicht in seiner Haut stecke.“ In diesem Buch erfährt man über das wilde Innenleben eines äußerlich womöglich unauffälligen Menschen. Innen zerrissen und unvollständig vernarbt. Er beschreibt unheimliche Albträume. In seinem Heimatdorf gibt es immer wieder Selbstmorde durch Erhängen. Winkler zeigt dem Leser die Welt, insbesondere die Stricher-Szene Roms, durch die Augen eines Erzählers, der von seinem Elternhaus, seinem Dorf, den Bauern, dem Klerus schwer, genau genommen existenziell geschädigt ist und einer magischen Anziehung der Selbstzerstörung und des Todes ausgesetzt ist. Die Berichte von den triebgesteuerten Stadtspaziergängen des Erzählers an den Schattenseiten der heiligen Stadt spickt er mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen an andere. Was für ein Schadenwurde dem Kind durch die fanatische Heiligenverehrung der Kameringer angetan? Verwesung, verwelkte Blumen, Leichen, alles, was mit dem Tod in Zusammenhang gebracht werden kann, durchzieht seine Schilderungen. Versuchter eine Befreiung von Schuldgefühlen? Er war Ministrant in dem kreuzförmig angelegten Heimatdorf. Er war das jüngste der Kinder seiner Eltern. Im relativ späten Laufe der Erzählung stellt sich heraus, dass der mehrfach erwähnte „Selbstmord-Jakob“ als Kind der Freund des Erzählers war. Dieser Jakob hat sich 17-jährig gleichzeitig mit seinem Freund Robert im Pfarrhof-Stadel erhängt. Für mich wird hier erst der schon von Anfang an gut geplante und hervorragende dramaturgischer Aufbau erkennbar. Der Protagonist hat auch den 16-jährigen Pjotr verführt, den Sohn einer ins Heimatdorf Kamering verschleppten Ukrainerin, die ihm ihre Geschichte erzählt hatte und nach der Publikation den Hass des Dorfes zu spüren bekam. Eigentlich ist es niemals Hass allein, sondern immer eine Hassliebe, die den Autor beschäftigt. Immer wieder kommt im Erzähler die katholische Erziehung durch, die ihm sagt, was man tun darf, und für alles andere Schuldgefühle parat hat. Ich spüre in dem Erzähler eine Angst vor allem, was nicht tot ist. Er schreibt: „Bei den Toten bin ich gerne. Sie tun mir nichts und sind auch Menschen.“Das sind die Worte eines Menschen, den die toten Angehörigen mit festem Griff zu sich ins Jenseits ziehen wollen, der sich dem Griff fast nicht mehrentziehen kann. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit. In seinen Träumen haben sie schon vollends von ihm Besitz ergriffen. Er kann den Lockrufen aus dem Jenseits schwer widerstehen. Manches ist an der Grenze des Erträglichen. Seine Hassliebe und Faszination betrifft die Zeremonien, Gewänder, Rituale der Kirche, ihre Symbole und ihre Anziehungskraft. Wonach soll man ein Werk und einen Autor beurteilen? Die einen haben einen wohl strukturierten, spannenden und interessanten Plot, unverwechselbare Charaktere, eine wunderbare Sprache. Winkler skizziert eigentlich nur einen Charakter, sich selbst. Seine Erzählkunst zeigt sich in der Genauigkeit, mit der er die sonst unbeachteten Typen beschreibt und die scheibchenweise Aufdeckung der lebensbedrohenden Probleme des Protagonisten. In seinen detaillierten Beschreibungen der römischen Stricherszene nimmt der Erzähler selektiv das wahr, was uns wahrscheinlich verschlossen bliebe. Der im Titel erwähnte »Friedhof der bitteren Orangen« ist übrigens der Ort, an den er am Ende des Buches die unzähligen Toten geistig überführt.
(C) Wolfgang Schinwald