Phantastische Nacht – Rezension
von Wolfgang Schinwald
In dieser Geschichte zeigt Stefan Zweig, dass er es wie kein anderer versteht, seinen Leser von einem Augenblick auf den anderen in der Gedanken- und Gefühlswelt seiner Charaktere gefangen zu nehmen und nicht wieder loszulassen. Dies gelingt ihm selbst dann, wenn der Leser so gut wie überhaupt nichts mit dieser Welt zu tun hat.
In der Einleitung erfährt man, dass es sich eigentlich um ein gefundenes Manuskript handelt. Ein versiegeltes Paket eines Barons, der gerade im Krieg im August 1914 gefallen ist. Die Familie übergibt jemandem die Papiere. In den Papieren findet sich ein von einem Ich-Erzähler erzählter Vorfall. Dieser Erzähler distanziert sich von dem Ich wieder in der Art, dass er nicht mehr der ist, von dem er erzählt und sich von außen sieht.
Der Protagonist befindet sich in einem Stadium emotionaler Impotenz. Dies wird durch ein Beispiel untermauert, als er einen Brief von einer Frau bekommt, mit der er jahrelang beisammen war und die ihm mitteilt, dass sie die Beziehung beendet, weil sie einen anderen heiraten will. Die Briefschreiberin hat offenbar große Befürchtungen, dass sie den Herrn in großes Unglück stößt, was aber völlig unbegründet ist. Es ist ihm völlig egal. Der Erzähler spricht von einem Prozess der Lähmung, der ihn erfasst hat. Er ist bereits völlig stumpf gegenüber derartigen Gefühlen geworden.
Durch Zufall wird der Erzähler/Protagonist auf ein Pferderennen in der Freudenau aufmerksam und erinnert sich an einen früheren Besuch der Rennbahn nahe dem Wiener Prater. Er nimmt eine Kutsche, und der Leser gewinnt einen Eindruck von der Eintönigkeit seines Lebens. Alles, was er erlebt, ist bereits vielfach bekannt, es fehlt ihm das Moment des Neuen, des Unbekannten. Nichts scheint ihn mehr neugierig machen zu können. Es ist ihm, als würde er jetzt schon wissen, was sich auf und abseits der Rennbahn abspielen werde.
In seiner zur Gewohnheit gewordenen Lustlosigkeit beobachtet er das Kopf-an-Kopf-Finish der Pferde, als ihm ein Mann auffällt, der mit überschwänglicher Begeisterung das Rennen verfolgt und dabei wild mit Wettscheinen, die er in der Hand hält, agitiert. Der Erzähler fühlt in diesem Moment einen unheimlichen Neid auf diese Begeisterungsfähigkeit und Erregtheit des Mannes, die ihm selbst verwehrt sind. Er fragt sich, was passieren müsste, dass er zu so einer emotionalen Regung fähig wäre. Er muss sich eingestehen, dass ihn vermutlich nichts aus seiner Apathie reißen könnte.
Nach dem Zieleinlauf setzt er sich gelangweilt auf einen Stuhl und gibt sich der unbeteiligten Beobachtung des Geschehens abseits der Rennbahn hin.
Das kindische laute Lachen einer Frau unmittelbar hinter ihm erhascht seine Aufmerksamkeit. Er gibt sich einem intellektuellen Spiel, einem psychologischen Experiment hin, indem er beschließt, die Frau nicht sehen zu wollen, sondern sich lediglich eine Vorstellung von ihr zu machen. Er hört ihr Gelächter, registriert ihren ungarischen Akzent, und schon stattet er sie mit dunklem Haar und einem Schönheitspunkt auf ihrer linken Wange aus. Es scheint selbstverständlich dass die Frau in seiner Vorstellung sehr schön ist. Sein Verlangen, die Frau zu sehen, steigt ins Unerträgliche. Er will die Lust an seinem imaginäres Spiel bis zum letzten Tropfen auskosten und schließt noch die Augen, bevor er sich erwartungsvoll umdreht.
Die Enttäuschung ist unvermeidlich. Das hindert ihn aber nicht, mit der Frau zu flirten, obwohl er merkt, dass sie mit jemandem da ist. Er bemerkt, dass es ihr nichts ausmacht, dass er mit den Augen jedes Detail an ihr absucht. Plötzlich kommt ein aufgeregter Mann auf sie zu. Nervös, verschwitzt. Dem Erzähler fällt nicht nur ein Bündel Wettscheine in seiner Hand auf, sondern der Ehering. Mit der Frau wechselte der Mann kein Wort, jedoch mit einem Offizier, und zwar in lautem Ungarisch. Der Erzähler erkennt in ihm jetzt den Mann, der so ekstatisch den Kopf-an-Kopf-Einlauf der Pferde mitverfolgt hatte. Die Frau scheint das Verhalten ihres Mannes vor dem Offizier als peinlich zu empfinden. Als sich der fette Ehemann zum nächsten Rennen aufmacht, will der Erzähler seinen Flirt fortsetzen und bringt sich in Position. Dabei stößt er mit dem nervösen Ungarn zusammen, dessen Wettscheine im Wind davongeblasen werden. Für einen kurzen Moment starren sich die Männer wortlos an. Der erzürnte Ungar sucht vor den Augen seiner Frau am Boden kriechend nach seinen Wettscheinen. Der Erzähler bemerkt den Hass der Frau ihm gegenüber und genießt es, dass er die beiden in so eine Aufregung verstrickt hat. Noch nie hat er eine Bosheit so genossen. Vor allem die Erniedrigung der Frau bereitet ihm großes Vergnügen.
Schließlich hat der Ungar alle Wettscheine aufgesammelt, bis auf einen, der sich in der Nähe des Erzählers befindet. Er beobachtet, wie verzweifelt der offensichtlich kurzsichtige Mann sucht und tritt einem bösen Impuls folgend auf den Wettschein, um ihn zu verbergen. Der Ungar muss seine verzweifelte Suche abbrechen, als ihn seine Frau wegzieht. Der Erzähler fühlt sich gut. Immerhin haben eine erotische Episode und ein Gefühl der Schadenfreude seine monotone Alltagswelt unterbrochen. Er hebt den Wettschein auf.
Wieder gibt es eine große Aufregung in der Menge. Ein neuer Zieleinlauf. Der Gewinner hat die Nummer 7. Das ist genau die Nummer auf seinem Wettschein. Der Erzähler gewinnt neunfach den Einsatz von 20 Kronen. Er löst den Wettschein ein, hat aber kein gutes Gefühl dabei. Er weiß, dass es das Geld eines anderen ist. Das ist einem ehrenvollen Offizier der Reserve, der er ist, verboten. Er will das Geld unbedingt loswerden und fasst schließlich den Entschluss, im nächsten Rennen alles auf den absoluten Außenseiter Teddy zu setzen. Als er sich entspannt auf einen Stuhl setzt sind alle negativen Gefühle wie weggeblasen. Bald aber überkommt ihn Nervosität. Er fürchtet den Ungarn Lajos mit seiner Frau zu sehen. Entgegen seiner Natur fiebert er dem Beginn des nächsten Rennens entgegen. Als ein Mann nicht müde wird, den Namen des Champions zu rufen, steigt unbändiger Hass im Erzähler auf, der jetzt nur eines will, nämlich dass sein Außenseiter Teddy gewinnt. So verliert er total die Selbstkontrolle und beginnt ekstatisch „Teddy, Teddy!“ zu rufen. Teddy gewinnt wider aller Erwartungen. Der Erzähler ist von Begeisterung erfasst und will den Sieg und das gewonnene Geld auskosten. Lust löst die Scham ab.
Auf der Heimfahrt mit der Kutsche will er einen neuerlichen Kontakt mit dem Ungarn und seiner Frau vermeiden. Er fühlt sich als niederträchtiger Dieb, der gleichzeitig irgendwie zufrieden über seine verbrecherische Tat ist. Zum ersten Mal seit vielen Jahren empfindet er eine nicht gekannte Nähe zum echten Leben. Und das ausgerechnet dann, als er mit Zylinder und noblem Gewand am niederen Pöbel der Vorstadt vorbeifährt. Es zieht ihn ganz und gar nicht nach Hause. Ganz im Gegenteil, er sucht aus Furcht vor der Einsamkeit den Kontakt zu gewöhnlichen Menschen, und um aus seiner Umgebung der Gleichgültigkeit auszubrechen. Er setzt sich in einen Biergarten, wo er sich plötzlich als Fremdkörper erkennt. Aber er spürt auch, dass ihm diese phantastische Nacht etwas anbieten würde, was ihm zuvor verschlossen war. Die Versuchung nach menschlichem Kontakt ist in dieser Nacht entflammt. Er erinnert sich an die Neugier seiner Kinderjahre. An eine dunkle Seite in seiner Jugend, während der ihn die Neugier nach diesen Figuren im Prater angezogen hat. Gleichzeitig fürchtete er sich vor ihnen. Er will frei atmen und will sich von der ultimativen Einsamkeit erholen. Seine Aufmerksamkeit gilt einem Karussell, das gerade zugesperrt wird.
Und als eine schmutzige Prostituierte aufkreuzt, hat er nur einen Wunsch, dass sie sich zu ihm herdrehen solle, damit er mit ihr sprechen kann. Sie erwidert seine unsichtbare Einladung, und er folgt ihr in eine dunkle Gasse, bis er bemerkt, dass es sich um einen Hinterhalt handelt. Zuhälter sind ihnen gefolgt. Er denkt zwar einen Augenblick lang an Flucht, jedoch entflammt ihn die alarmierende gefährliche Situation nur noch mehr. Sie verlangt Geld von ihm. Er gibt es ihr und als sie ihrer Freude Ausdruck gibt, freut auch er sich, als hätte er für jemanden Armen etwas Gutes getan. Das erste Mal in seinem Leben war er sich bewusst, für jemanden anderes zu leben. So lebendig fühlte er sich. Er konnte ihr ganzes miserables Leben ausgebreitet vor sich sehen. Unendliches Mitleid überkam ihn. Zwei Figuren tauchten in der Dunkelheit auf und er erkennt, dass er sich in der tiefsten Stelle des Abgrundes befindet, in die er kommen kann. Er, der smarte, noble Gentleman in der Halbwelt der Zuhälter. Die Frau weicht zur Seite, als würde sie den Hinterhalt nicht billigen. Die Männer drohen ihm. Obwohl die Situation ausweglos scheint, spielt er mit den Kriminellen wie er es auf der Rennbahn getan hat. Er versteht sich als Krimineller unter Kriminellen. Und zum zweiten Mal in dieser Nacht ist er verzaubert vom risikoreichen Spiel mit dem gefährlichsten, mit dem man spielen kann, mit dem Leben. Schließlich tauchen Polizisten in der Nähe auf. Die Zuhälter ziehen sich zurück und das Spiel scheint vorbei. Er hat ein zweites Mal gewonnen. Die Spannung ist auf dem Höhepunkt. Die Polizisten kommen und der Erzähler weiß, dass die Zuhälter jetzt ihn fürchten und nicht umgekehrt. Er überlegt, was sie von ihm gewollt hätten, von einem saturierten Parasiten, sie hätten ihn ausrauben und strangulieren können. Es tut ihm Leid, dass er, der ja selbst aus einer Laune heraus zum Dieb geworden war, diese armen Teufel peinigt. Er gewinnt Sympathie für die Kriminellen und schämt sich mit ihrer Angst zu seinem eigenen Amüsement gespielt zu haben.
Deshalb geht er auf sie zu, tut eingeschüchtert. Sie haben etwas anderes erwartet. Drohungen vielleicht. Der Erzähler genießt erneut das Spiel. Er bittet um Gnade und um Geheimhaltung. Er offeriert den erstaunten Erpressern 100 Kronen. Sofort verlangt der zweite Zuhälter 200. Das Mädchen aber interveniert. Darüber freut sich der Erzähler. Noch nie hat ein Mensch für ihn Partei ergriffen. Er gibt den amateurhaften Gaunern 200. Ohnehin Geld, das er sich durch zweifelhafte Machenschaften angeeignet hatte. Als sich der Zuhälter bedankt, schämt er sich sogar. „Ich habe zu danken, dass ihr mich nicht bei der Polizei gemeldet habt“, antwortet er und weiß, dass dieser Moment ewig in der Erinnerung dieser Menschen präsent sein würde und dabei fühlt er selbst eine Genugtuung, die er noch nie gefühlt hat.
Euphorisch nähert er sich dem Prater-Ausgang. Dort erblickt er eine Straßenhändlerin. Der Erzähler gibt ihr für etwas Gebäck, dass sie vermutlich schon seit Stunden zu verkaufen versucht, eine Banknote. Er geht weiter und genießt ihr Erstaunen und ihre Dankbarkeit. Jetzt kann er nicht mehr genug kriegen davon, andere glücklich zu machen. Sogar einem Pferd streicht er über die Nüstern. Einem Händler kauft er Luftballone ab und entlässt sie in die Freiheit der Lüfte. Ebenso scheinen seine verbleibenden Banknoten auf Freiheit zu brennen. Er beglückt einen Straßenfeger und andere Personen, womit er eine Welle des Erstaunens und der Dankbarkeit hinter sich lässt. Als er sich der letzten Geldscheine entledigt hat, fühlt er sich leicht.
Vor seiner Wohnungstür schreckt der Erzähler zurück. Er hat Angst, mit dem Betreten seiner Wohnung wieder der zu werden, als der er hier weggegangen ist. Die Furcht ist unbegründet. Er wacht am nächsten Tag freudig auf. Die Lebenslust ist noch da. Er will nicht wissen, wie lange das so bleibt und wie sein Leben weitergeht. Denn nur wer sein Leben als Mysterium lebt, ist wirklich am Leben, glaubt er zu wissen. Jetzt interessiert ihn alles, nichts steht er mehr gleichgültig gegenüber, und er kann mit Menschen sprechen, ohne die Schranken der höflichen Konversation. Er bezeichnet seine Wende als Wunder des Erwachens. Einer, der sich selbst gefunden hat, so meint er, der kann nichts mehr verlieren und der versteht auch andere Menschen.
Also ich bin von der Spannung der Geschichte total begeistert und ich muss eigentlich nicht erwähnen, dass ich diese Lektüre (wie alle anderen Werke von Stefan Zweig auch) wärmstens empfehle.