Um 14 Uhr betrete ich die Praxis, die Sekretärinnen lächeln mich an, sie kennen mich schon. Fast jeden Tag bin ich in der letzten Woche aufgetaucht, um mit Antibiotika-Spritzen und Spülungen die Entzündung meines Weisheitszahnes zu bekämpfen und meinem geschwollenen Gesicht wieder eine ansehnliche Form zu geben. Der Geruch in einer Zahnarztpraxis ist einfach umwerfend. Deshalb haben auch so viele Patienten Probleme mit dem Kreislauf und fallen um. Die Sekretärinnen und Assistentinnen sind guter Dinge, sie haben ja auch kein Zahnweh. Freundlich bedeuten sie mir, im Wartesaal etwas zu warten. Ich bin der einzige Patient zu dieser Zeit. Ich blättere ein paar Auto Zeitschriften durch. Sehr oberflächlich registriere ich die Bilder und Überschriften. Gleich werde ich drankommen, denke ich mir. Ah, da entdecke ich ein Reisejournal mit einem Bericht über die Côte d’Azur. Mensch, das sind aber beeindruckende Aufnahmen. Diese Farben! Ja, diese Bilder entspannen mich. Sie wecken Erinnerungen an den Urlaub: das Esterel Massif, der TGV, das herrliche Blau des Meeres an der Côte. Ich lehne mich im Stuhl zurück und ertappe mich dabei, dass ich lächle.
Da kommt die freundliche Assistentin. Aus ist es mit der Urlaubsstimmung. Ich springe nervös auf und folge ihr. Das hübsche Mädchen führt mich in den gleichen Raum, in dem ich in der vergangenen Woche fast täglich meine Spülungen und Spritzen bekam. Die Vertrautheit mit dem Raum beruhigt mich irgendwie. Ich lege mich auf meinen bekannten Stuhl und warte mit gespielter Gleichgültigkeit, was mit mir passieren wird. Ich sehe zuerst direkt in die helle Lampe über mir, dann sehe ich nichts mehr. Deshalb setzt mir die Assistentin eine Sonnenbrille auf und hängt mir einen Latz um, damit ich mich nicht ankleckern kann. Ich sehe sie zwar nicht mehr, aber ich höre, wie sie auf einem Keyboard etwas in einen Computer eingibt. Wahrscheinlich meine Daten. Ihr Parfüm riecht gut. Es lenkt zumindest von dem fürchterlichen Zahnarzt Geruch ab. Es dauert eine Ewigkeit, bis der Doktor kommt. Ich habe schon lange die Augen geschlossen und träume bereits von der Côte d’Azur, als er mich begrüßt und mir sofort eine Spritze ansetzt. Gott sie Dank, denke ich mir, ich will nur ja nichts spüren. Dann bin ich wieder allein. Auch die Assistentin mit dem guten Parfüm und der beruhigenden Stimme ist wieder weg. Ich träume weiter, bis sich meine Lippe wie eine weiche Extrawurst anfühlt. Jetzt wird’s bald losgehen, denke ich mir. Ein anderer Patient wird gerade fertig sein, die Brille abnehmen und heimgehen. Dann wird der Doktor zu mir kommen. Hoffentlich kann er sich noch konzentrieren. Da ist er schon. „Wie geht’s? – Ist die Lippe schon bamstig?“ – „Ja“. Jetzt kann ich auch die Assistentin riechen. Das Parfüm ist wirklich ein Wahnsinn. Der Doktor redet mit der Assistentin ein Fachchinesisch, dass ich glaube, ich bin im Ausland. Ich verstehe kein Wort, kann mir aber vorstellen, was bald von mir verlangt werden wird. Deshalb reiße ich vorsichtshalber den Mund weit auf. Sie hören auf zu reden. Es geht los. Ich sehe mit der Sonnenbrille genau in die Lampe. Links nehme ich das Gesicht der Assistentin wahr, rechts das des Zahnarztes. Los geht’s. Ich kann nicht mehr raus. Er wird schon wissen, was er tut. Ich habe Vertrauen in ihn. Er hat schon oft in meinem Mund herumgewerkt, und es hat bisher immer geklappt. Das Wort „bisher“ hebt sich in meiner Vorstellung wie mit einem Leuchtstift markiert hervor. Ich bin heute irgendwie ängstlicher als sonst. Verdammt, die Assistentin zuckt und hält den Kopf weg. Er werkt fürchterlich im meinem Mund herum mit seinen Instrumenten und den Gummihandschuhen, aber es tut noch nicht weh. Ich schließe vorsichtshalber die Augen. Ich kann sowieso nichts tun. Ich bin ihm total ausgeliefert. Wenn der nicht weiß, was er tut, bin ich verloren. Ich habe Vertrauen, rede ich mir immer wieder ein. Er kennt sich aus. „Wenn es weh tut,spritzen wir nach“, sagt er. „Tut es weh?“ „CHHHHHnn“, sage ich. Es soll „nein“ heißen. Jetzt kennt er kein Erbarmen mehr. Er arbeitet wie ein Mechaniker. Mit geschlossenen Augen bin ich sowieso in einer anderen Welt. Ich versuche, mir aus dem, was ich verspüre, vorzustellen, was er macht. Das interessiert mich und lenkt mich ab. Ich stelle mir vor, ich kann von oben auf mich draufsehen, ich stelle mir vor, ich bin der Zahnarzt und ziehe mir meinen eigenen Zahn. Doch ersteinmal schneidet er das Zahnfleisch auf, um an den Weisheitszahn heranzukommen. Das spüre ich genau. Er schneidet durch und trifft auf den Zahn. „Absaugen!“, befiehlt er der Assistentin. Gott sei Dank saugt die Assistentin gut ab. Sonst würde mir auch noch der Speichel und das Blut im Mund herumrinnen. Jetzt setzt er schon zum Ziehen an. „Ein bißchen rührt er sich, aber noch nicht genug“, sagt er. In meiner Finsternis bekomme ich nun doch Angst. Nur wegen der hübschen Assistentin renne ich nicht davon. Ganz cool bleiben, rede ich mir immer wieder ein. Aber was passiert, wenn der den Zahn nicht herausbringt und mich mit der Rettung ins Ambulatorium bringt. Ob sie mir dann eine Vollnarkose geben? Was ist, wenn ich einen Kollaps habe? Mir ist schwindlig und schlecht. Von dem guten Parfüm kann das nicht sein. Das ist der Kreislauf. Das kommt von dem Zahnarzt-Geruch hier drinnen. Dieses Desinfektions-Zeug und dieses Fluor, das mag ich schon so. Da reagiere ich wie bei Weihrauch. Mein Gott, ich hätte sofort wieder gehen sollen! Wenn die mich mit der Rettung wegbringen müssen. Habe ich das Auto versperrt? Ist mit der Wohnung alles in Ordnung? Ich bin noch nie in einem Hubschrauber geflogen. Wie gerne würde ich mit einem Hubschrauber über die Stadt Salzburg oder über den Wallersee fliegen, vielleicht sogar über die Wallerseegasse, in der ich wohne. Aber doch nicht so! Nein, das muß ich wirklich nicht haben. In meiner Finsternis rechne ich mit dem Schlimmsten. Das ist wirklich ein Alptraum. Aber ich habe Vertrauen. Der Bursche macht das schon. Die österreichische Ausbildung ist die beste, nicht nur in der EU, nein, unsere Zahnärzte sind weltweit die Besten. Und der Herr Doktor war sicher einer der besten Studenten. Es hingen so viele Urkunden und Auszeichnungen in seiner alten Ordination. Er hat mehr Behandlungsstühle als viele andere Zahnärzte. Er verlangt mehr Geld als viele andere. Er muss einer der besten sein. Er bleibt zumindest cool. Er wirkt, als ob er wüßte, was zu tun ist. Jetzt zerbohrt oder zerschneidet er den Zahn. Ich habe den Eindruck, als ob er ihn total wegfräste. Der Alptraum gerät in eine Zeitlupe. Mein ganzer Kopf dröhnt. Der Bohrer macht mindestens 15000 Touren. Wie man das nur aushalten kann. Gut, dass ich nicht hinsehen muss. Trotzdem stelle ich mir das Schauspiel von allen Seiten vor. Es geht wild zu in meinem Mund. Der Bursche muß konzentriert sein. Was ist das für ein Job? Jeden Tag in den Mäulern der Patienten kaputte Zähne reparieren. Nur gut, dass ich am Zahn selbst nichts spüre! Aber die Lippe und den Gaumen hat er schon ein paarmal erwischt. Abgerutscht ist er auch schon mehrmals. Ein wilder Hund! Na, lieber ein wilder Hund, als einer, der überall zögert. Er kann den Zahn nicht fassen. Darum fräst er weiter wie ein Irrer? Jetzt ist mir alles egal. Natürlich überlege ich mir noch immer, was er vorhat. Will er den Zahn in Teile zerlegen, die er dann einzeln herausholt? Was weiß ich! Ich bin doch nicht der Zahnarzt. Der hat eine gediegene österreichische Ausbildung, viel Erfahrung und schöne Urkunden, der macht das. Mir ist jetzt alles egal. Ich warte einfach, bis alles vorbei ist. Als ob ich mit geschlossenen Augen einen Salto vom 3 Meter Brett machen würde. Abspringen und warten, bis ich auf das Wasser aufschlage. Ein Blindflug sozusagen. Irgendwann ist alles vorbei. Wie recht ich doch habe. Der Zahn ist endlich gezogen. Ich habe es gar nicht mehr bemerkt. Ich muß noch eine Stunde auf dem Sessel liegenbleiben. Jetzt kann ich das Parfüm genießen. Die Assistentin tippt wieder etwas in den Computer. Es geht mir den Umständen entsprechend gut – bis die Nacht hereinbricht. Dann läßt die Spritze nach und der Schmerz meldet sich an, die ganze Nacht, und die ist lang.
(C) Wolfgang Schinwald 1998