Diebstahl im Gedränge?
Von Wolfgang Schinwald
Ein Schuss hat mich am frühen Morgen aus dem Haus gelockt. Sofortige Entwarnung. Vom meinem Balkon aus konnte ich beobachten, wie ein in die Jahre gekommener glatzköpfiger Sportlehrer seine Schüler militärisch antreten ließ und paarweise über die 60 Meter Strecke jagte. Aufgeregt standen die kleinen Buben am Start wie Rennpferde. Jeder Startschuss ein Herzinfarkt. Nur keine Hundertstel Sekunde verlieren. Todernste Sache. Hat der Lehrer nicht richtig gestoppt? War der Lauf wirklich so langsam? Warum ist der schneller, der doch gar nicht so intensiv trainiert? Kann es sein, dass die blausilbrige Zauberdose, an der der Schnellst vor dem Start genippt hat, wirklich beflügelt?
Jetzt bin ich nach einer langen Nacht des Suchens hier gelandet, im „Scrum“. Ein Fehler. Wieso gehe ich hier überhaupt rein! Wenn eh gar kein Platz ist. Aber sitzen will ich sowieso nicht mehr, auch wenn ich schon so einen sitzen habe, dass ich fast nicht mehr stehen kann. Na wirklich, wieso gehe ich da rein? Trinken will ich ja auch nichts mehr. Nie hätte ich hier herkommen sollen. Nie wäre ich ohne diesen Besuch auf den Diebstahl aufmerksam geworden. Weiß der Teufel, wie viel mir gestohlen wurde. Ich weiß ja nicht einmal, wie viel ich noch hatte. Alle sind verdächtig. Und was noch erschwerend hinzukommt: Jeder einzelne ist mir unsympathisch. Am meisten die Kellner, die ständig aus kleinen Dosen trinken, um so künstlich gut gelaunt zu sein. Es ist, als hätten sie mir alle etwas gestohlen. Einer wie der andere.
Ach was! Ich brauche gar keinen verantwortlich zu machen. Ich hätte besser aufpassen sollen. Ich hätte keinen an mich heranlassen sollen. Aber das ist ja unmöglich bei dem Gedränge. Und auch unnötig angesichts der Oberflächlichkeit der Begegnungen. In welcher Welt sind wir hier überhaupt? Die Zeit steht nicht still. Leider. Bei all dem Gedränge fehlt mir am meisten die Nähe, die Nähe zu Menschen, insbesondere zu solchen, deren Anwesenheit mir gut tut. Hier sind keine Menschen. Oder zumindest sind sie nicht in ihrer Funktion als Menschen hier. Aber Diebe sind sie auch nicht. Selbst wenn sie von jeder Sympathie frei sind. Am Ende sind sie gar alle bestohlen worden wie ich. Oder haben wir sie alle verloren. Verlegt können wir sie nicht haben, denn sie ist unwiederbringlich weg. Die Zeit. Die Musik im „Scrum“ belastet mich so gut wie gar nicht. Robbie Williams singt gerade über eine freie Werbefläche und ein Besoffener grölt die zwei einzigen Worte, die er aufgeschnappt hat, immer wieder dazu. „Advertizing Space“, grölt er und denkt vielleicht, es handle sich um eine attraktive Frau, eine Amerikanerin mit ebenmäßigen weißen Zähnen, die jede Frage nach dem Befinden mit „phantastic“ beantwortet. In meinem Kopf aber spielen ganz exklusiv Pink Floyd. „Time“ spielen sie.
Ticking away the moments that make up a dull day You fritter and waste the hours in an offhand way.
So ist es! Ich habe schon genug Zeit zwischen meinen Fingern entkommen lassen. Das war kein Diebstahl, nein, eher Dummheit. Totgeschlagen habe ich die Zeit mit festen Hieben. Zerquetscht und entsorgt habe ich sie und ihr zornig nachgebrüllt.
And then one day you find ten years have got behind you. No one told you when to run, you missed the starting gun.
Wenn es nur zehn Jahre wären! Das Doppelte ist nicht genug. Ich will gar niemand dafür verantwortlich machen, dass ich den Startschuss verpasst habe. Ein Träumer. Ich habe immer gewartet, dass etwas passiert. Aber wenn du nicht selbst dafür sorgst, passiert nichts. Nicht im „Scrum“ und nicht in all den anderen „Hangouts“ in dieser verlogenen Stadt.
So you run and you run to catch up with the sun but it’s sinking
Ja genau. Die Sonne sinkt unaufhaltbar. Ich habe es nur nicht wahrhaben wollen, weil sie immer wieder kommt. Immer wieder kommt sie. Aber jedes Mal, wenn sie sich majestätisch am Horizont erhebt, bin ich einen Tag älter. Einen ganzen Tag.
The sun is the same in a relative way but you’re older, Shorter of breath and one day closer to death.
Hab ich’s nicht gesagt? Mindestens einen Tag älter. Und dem letzten Schnaufer näher. Na davon will ich gar nicht reden. Ich will nicht einmal daran denken. Darin bin ich perfekt. Was ich vermeiden will, an das denke ich einfach nicht. Zumindest bis jetzt. Aber ich habe das ungute Gefühl, dass ich etwas Unwiederbringliches versäume, ja schon viel zu viel versäumt habe. Nicht durch Schicksal, sondern durch Ungeschicktheit, um es nicht zu drastisch zu formulieren.
The time is gone, the song is over, Thought I’d something more to say.
Habe ich auch gedacht, dass es darüber mehr zu sagen gibt, vielleicht schreibe ich einmal etwas darüber. Beim Schreiben habe ich wenigstens das beruhigende Gefühl, dass ich nichts versäume. Ich muss mir die Nummer noch einmal ganz genau anhören. Im Auto. Wo ist dieses „Time“ eigentlich drauf? Ja genau, „The Dark Side of the Moon“. Wie treffend. Ausgerechnet heute ist Vollmond. Da glaubt man, es gibt gar keine dunkle Seite. Und dabei sehe ich sie sogar, wenn der Mond ganz hell ist. Mein Glas ist halb leer. Und ich werde es nicht mehr füllen, nicht einmal aus einer blausilbrigen Dose. Ich werde austrinken. Ex. Und genau beim Startschuss.